Die Grenzen der Selbstoptimierung: 2. Disziplin ohne Richtung

Was wir kontrollieren und wo wir uns ergeben sollen
Ein Essay über die Balance zwischen Kontrolle und Hingabe - und den fehlenden Sinn im modernen Mindset-Boom.

2. Disziplin ohne Richtung

Selbstkontrolle ist eine Form der Anstrengung, vielleicht sogar die größte mögliche Art menschlicher Anstrengung, die uns von den Tieren unterscheidet und unser Menschsein ausmacht. Sie ist das Rückgrat jeder aufrichtigen Absicht. Ohne sie versickert selbst die beste Idee, bevor sie Wurzeln schlagen kann, in Bequemlichkeit und Ausflüchten. Das heißt, wir müssen in unserem Leben ganz sicher Selbstbeherrschung üben und praktizieren. Doch was Disziplin heute oft verloren hat, ist ihr Maß und ihr Sinn.

Wir üben Kontrolle, als wäre sie das Ziel. Wir planen, optimieren, organisieren in der Hoffnung, uns selbst und damit das Chaos des Lebens zu bändigen. Dabei war Disziplin nie dafür gemacht, uns unfehlbar zu machen. Sie sollte uns führen, damit wir standhaft bleiben, wenn das Leben uns prüft.

Im islamischen Verständnis ist Mühe ein Weg zur inneren Wachheit. Sie ruft dazu auf, sich zu erheben, den Körper zu bewegen, den Geist zu schärfen und den eigenen Willen zu zähmen.
Denn nichts Kostbares wächst ohne Anstrengung. Selbst die Seele verlangt Mühe - dieses stille Ringen gegen Trägheit, Ausflüchte und die Stimme, die immer wieder sagt: „Später.“ Und wer sich für Allah abmüht, wird selbst in seiner Erschöpfung getragen, wenn er an seine Grenzen stößt.
Disziplin mit einem Ziel über das Ego hinaus wird hiermit zur Läuterung. Sie stärkt das Herz, ohne es zu verhärten. Sie führt nicht zur Verbissenheit, sondern zur Würde.

Viele, die in der heutigen Mindset-Kultur Orientierung suchen, haben diesen Kern gespürt: dass Übung, Routine und Wiederholung wichtig sind. Und es stimmt, daß Selbstdisziplin das Mittel ist, durch das Potenzial Wirklichkeit wird. Aber die Richtung, in die diese Disziplin zielt, entscheidet über ihren Wert.

Tatsächlich gibt es zwei Arten von Anstrengung.
Die eine will sich selbst erhöhen.
Die andere will sich selbst verfeinern.

Die Erste arbeitet für Selbstwertgefühl, Anerkennung und Status. Sie begrenzt das Ego und hinterlässt Sinnlosigkeit.
Die Zweite arbeitet im Stillen, für den Einen, der alles sieht. Sie nährt die Seele und hinterlässt Zufriedenheit.

Zwischen beiden liegt kein äußerlicher Unterschied. Beide stehen früh auf, beide überwinden sich, beide streben. Doch der eine trägt es als Last, der andere trägt es als Licht.
Das wahre Maß liegt also nicht in der Intensität, sondern in der Ausrichtung. Nicht, wie viel du tust, sondern allem voran: wofür du es tust.

Der Islam lehrt, dass Anstrengung selbst eine Form der Anbetung ist, wenn sie aufrichtig um Allahs willen geschieht: ein stiller, dauernder Kampf gegen die Trägheit, die uns vom Höheren trennt. Denn nichts wächst ohne Mühe: weder Wissen noch Geduld, weder Charakter noch Nähe zu Allah.

Diese unstillbare Sehnsucht nach Perfektion ist an sich kein Irrtum, sondern ein Echo jener Vollkommenheit, aus der wir erschaffen wurden, - und die sich nur in der Nähe zu Allah erfüllt, wenn wir nicht nach unseren, sondern nach Seinen Maßstäben streben.
Anstrengung ist also nicht das Gegenteil von Hingabe, sondern ihre Voraussetzung. Disziplin dient im Islam als Werkzeug, durch das wirkliche Hingabe Gestalt annimmt. Sie verwandelt Absicht in Handlung, Geduld in Gewohnheit und Glauben in echtes Leben.

Der Islam lehrt uns, dass keine aufrichtige Mühe vergeblich ist. Ihr Wert wird durch unsere Absicht bestimmt, und er bleibt bestehen, selbst über den Tod hinaus. Wir sind nur bedingt fähig, die Ergebnisse zu kontrollieren, jedoch die Motivation, aus der heraus wir handeln.
Wir können beeinflussen, wie und für was wir unsere Zeit nutzen, wie effektiv wir arbeiten und lernen, wie wir unseren Körper und Geist gesund halten, wie wir mit unserer Familie umgehen, mit unseren Nachbarn und Mitmenschen.
Und wir können dabei auch entscheiden, ob wir unseren Körper und Geist überfordern oder vernachlässigen, ob wir uns weiterbilden oder betäuben, ob wir uns in Aussichtslosigkeit verlieren oder den Mut finden, selbst kleine Schritte zu gehen, obwohl sie fast unmöglich scheinen.

Akzeptanz, Erfolg, das Urteil der Menschen, das Ergebnis all unserer Mühe - all das liegt letztlich in Allahs Händen. Frieden entsteht nicht, wenn wir alles kontrollieren, sondern wenn wir das Richtige kontrollieren und den Rest Allah überlassen.
Disziplin kontrolliert das Herz, Hingabe befreit es. Beides zusammen führt zur Glückseligkeit.

Anna @ Min Sakinah

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3. Teil - Das rechte Maß

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1. Teil - Die Illusion der Kontrolle