Zwischen Geschenk und Entscheidung

In diesem Text teile ich meine Gedanken über den Unterschied zwischen Geburtsmuslimen und Revertierten - über die Schönheit, die Mühen und die tägliche Entscheidung des Glaubens.

Die Frage

Als ich vor vielen Jahren den Islam als meine Lebensweise angenommen habe, stellte ich mir oft eine Frage:
Wie mag es sich anfühlen, im Islam geboren zu sein?
Den Glauben von klein auf als etwas ganz Selbstverständliches in sich zu tragen?

Ist er dann fester, natürlicher, bodenständiger - oder gar reiner?
Ist es nicht einfacher, wenn er von Geburt an da ist, während wir ihn erst bewusst verinnerlichen und unser gesamtes Denken und Fühlen neu ausrichten müssen?

Zwischen Gewohnheit und Tiefe

Dabei geht es mir nicht in erster Linie darum, dass man in einer muslimischen Familie von klein auf fast automatisch Rituale und Werte übernimmt. Geborene Muslime werden trotzdem genauso in ihrem Glauben geprüft und herausgefordert.

Was ich meine, ist etwas Tieferes: Von klein auf im Herzen zu tragen, dass Allah einer ist - Schöpfer und Lenker von allem.
Dieses Bewusstsein, der Tauhid, liegt wie ein Samenkorn in der Seele, noch bevor Verstand und Zweifel sich dazwischenstellen. Es ist bereit zu wachsen. Und es kann schon als Kind zum sicheren Anker werden, auf dem Wahrnehmung, Denken und Weltverständnis von Anfang an ruhen.

Der Weg der Revertierten

Für uns, die den Glauben bewusst gewählt haben, beginnt alles anders.
Er ist neu, vage, manchmal noch unvorstellbar. Wir müssen ihn Tag für Tag, Jahr für Jahr entdecken, prüfen und in unseren Herzen verankern.

Das ist leichter gesagt als getan. Denn alte Muster aus früheren Überzeugungen, persönliche Erfahrungen und Erinnerungen aus einer Welt, in der „seeing is believing“ gilt, kehren immer wieder zurück. Sie sind von Kindheit an tief in uns eingebrannt. Sie ziehen an uns, säen Zweifel, lenken das Herz ab. Und sie erschweren es oft, an das Unsichtbare zu glauben - an etwas, das existiert, ohne dass wir es greifen können.

Dann sind da noch diese Momente der Unsicherheit. Oder das Gefühl, sich in eine neue, fremde Welt einfinden zu müssen.
Diese inneren Kämpfe, in denen man sich alleine fühlt.
Alles scheint schwerer. Alles verlangt bewusste Mühe.

Das tägliche Üben

So wird der Glaube zu einem aktiven Üben.
Wir müssen erst lernen, Vertrauen aufzubauen, noch bevor es sich selbstverständlich anfühlt.

Jeden Tag treffen wir die Entscheidung.
Jeder kleine Fortschritt ist ein Sieg über alte Muster, Ängste und innere Widerstände,  oft verstärkt durch Konflikte mit Familie oder dem „alten Leben“.

Wie ein zartes Pflänzchen im Wind, das versucht, sich zu halten - getragen allein durch die Überzeugung, das Richtige zu tun. Durch das innere Gefühl, der Fitra zu folgen.

Die verborgene Schönheit

Doch liegt nicht gerade in diesem Ringen eine besondere Schönheit, die wir vielleicht erst viel später erkennen?
Allah sieht unsere Anstrengung, - dieses kontinuierliche Standhalten und Aushalten, um stärker zu werden.

Jeder Moment des bewusst gewählten Glaubens ist damit besonders wertvoll.
Unser Weg mag intensiver sein. Er mag mehr Kraft kosten. Er mag von Jahren voller Auf und Ab begleitet sein. Uns manchmal seelisch belasten im Kampf gegen unsere eigenen Mauern.

Doch er formt ein tiefes, persönliches Fundament, das auf keine andere Weise entstehen kann. Gerade weil alles bei uns selbst beginnt - bei unserer Absicht und unserem Tun.

Ein Versprechen der Nähe

Der Prophet ﷺ überliefert in einem Hadith Qudsi, dass Allah - erhaben ist Er - gesagt hat:

„Wer Mir eine Handspanne entgegenkommt, dem komme Ich eine Armlänge entgegen.
Und wer Mir eine Armlänge entgegenkommt, dem komme Ich zwei Armlängen entgegen.
Und wer zu Mir gehend kommt, dem komme Ich eilend entgegen.“
(Sahih al-Bukhari, Nr. 7405; Sahih Muslim, Nr. 2675)

Ein täglicher Neubeginn

Glaube ist kein Gefühl, das einfach da ist.
Er ist eine tägliche Entscheidung. Ein stetiges Bemühen, ein beständiges Kämpfen des Glauben-Wollens.

In diesem Prozess nähern wir uns Allah auf eine ganz eigene Weise. Schritt für Schritt werden die Schleier gelüftet.
Unser ganzes System durchläuft einen Neustart zurück zur Werkseinstellung.

Es gibt dabei so viele Wege und Nuancen, wie es Menschen gibt.
Es braucht enorme Standhaftigkeit. Geduld - vor allem mit sich selbst. Zeit.
Und die Gewissheit, dass, wenn wir uns in Seine Hände ergeben, für uns gesorgt sein wird.

Habt ihr euch diese Frage auch schon mal gestellt - ob es anders wäre, im Islam geboren zu sein? Was denkt ihr dazu? Schreibt mir gerne in den Kommentaren auf Instagram.

Anna @ Min Sakinah